Die größten Mythen der Rechtsmedizin

Die größten Mythen der Rechtsmedizin

Professor Michael Tsokos ist nicht nur der bekannteste Rechtsmediziner Deutschlands und ein international anerkannter Experte für Forensik, sondern auch Bestsellerautor. Seine True-Crime-Thriller um den Rechtsmediziner Paul Herzfeld und seine Sachbücher führen regelmäßig die Spiegel-Bestsellerliste an. Michael Tsokos weiß: Über kaum ein Metier kursieren so viele Mythen wie das der Rechtsmedizin. Kein Wunder, findet der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Berliner Charité: „Fernsehkrimis wie der ,Tatort’ bedienen gerne Klischees. Es ist der Dramaturgie der Story geschuldet, wenn Tatsachen verzerrt werden.“ Das sei völlig in Ordnung, führe aber zu falschen Annahmen über seine Arbeit und die seiner Kollegen. Mit diesen Irrtümern räumt Tsokos in seinem aktuellen Sachbuch „Schwimmen Tote immer oben? – Die häufigsten Irrtümer der Rechtsmedizin“ (Droemer, 14,99 €) und im Interview auf.

Herr Professor Tsokos, Sie stellen die Frage gleich auf dem Titel Ihres Buches: Schwimmen Leichen tatsächlich immer oben?
Nein, absolut gar nicht. Im Film treiben Ertrunkene ja meist auf dem Rücken mit dem Gesicht nach oben – am besten in einem Pool, weil das besonders gut ins szenische Bild passt. In Wirklichkeit geht ein Körper sofort im Wasser unter. Das liegt daran, dass die Lungen anstatt mit Luft nun mit Wasser gefüllt sind, was dazu führt, dass die Leiche nach unten gezogen wird. Dazu kommt, dass sich die Kleidung mit Wasser vollsaugt und ebenfalls abwärts zieht.

Und eine Wasserleiche treibt auf dem Bauch, nicht etwa auf dem Rücken?
Ganz genau, mit dem Gesicht nach unten, wobei Arme und Beine nach unten hängen und den Körper in Bauchlage halten – sie wirken fast wie der Kiel eines Schiffes, der den Rumpf stabilisiert. In freien Gewässern treiben Leichen nah über dem Grund, dabei entstehen auch die typischen „Treibverletzungen“, also Abschürfungen an den dem Boden entlang schleifenden Körperpartien.

Durch Serien, Filme und Bücher meint man ja, die Arbeit von Rechtsmedizinern genau zu kennen. Sie kommen meist recht abgeklärt und trocken rüber. Stimmt es, das Menschen in Ihrem Beruf tendenziell coole Socken sind, die keine Angst vor dem Tod haben?
Stimmt nicht. Natürlich ist mir als Rechtsmediziner bewusst und wahrscheinlich bewusster als anderen Menschen, wie grausam der Tod sein kann, wie schrecklich qualvolles Sterben ist und was der Tod für die Angehörigen bedeutet. Ich kann sagen: Wir Rechtsmediziner sind sehr lebensbejahende Menschen. Wir bekommen jeden Tag mit, wie schnell sich das Leben drehen, wie von einem auf den anderen Moment alles vorbei sein kann. Schöne Momente bewusst genießen und sich drüber klar sein, wie wertvoll das ist, das ist meine Devise.

Und wie steht es mit dem Mythos: Rechtsmediziner haben schwarzen Humor?
Das stimmt auf jeden Fall. Wir sind nicht pietätlos und machen uns über die Toten lustig. Aber wenn wir die Ermittlungsakten gemeinsam durchgehen, dann entstehen manchmal Situationen, in denen sich unser schwarzer Humor zeigt. Ein Beispiel: Eine Frau fand ihren Mann nach ein paar Tagen Abwesenheit tot auf dem Sofa, und der Leichnam war schon recht verfault. In der Akte stand: Frau Soundso fand ihren Mann faul auf dem Sofa liegend, aber das würde er sonst auch tun. Solche Formulierungen werden dann mit schwarzem Humor kommentiert.

Viele denken auch: Rechtsmediziner obduzieren nur bei Tötungsdelikten.
Ein großer Irrtum! Das denken die meisten. Wir kommen immer dann ins Spiel, wenn die Todesumstände unklar sind. Natürlich haben wir mit Tötungsdelikten zu tun – aber es kommt eben auch vor, dass jemand tot auf einer Parkbank oder in der U-Bahn aufgefunden wird und nicht klar ist, wie und wodurch derjenige gestorben ist. Wir obduzieren dann um auszuschließen, dass die Person umgebracht wurde. Aber wir obduzieren auch bei tödlichen Verkehrsunfällen oder bei im Krankenhaus Verstorbenen, wenn der Verdacht auf einen ärztlichen Kunstfehler besteht. Auch Suizide untersuchen wir, um Fremdeinwirkung auszuschließen.

Michael Tsokos ist Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner und Bestsellerautor

Wahr oder Mythos: Rechtsmediziner finden immer heraus, woran jemand gestorben ist.
Nein, das können wir tatsächlich nicht. Bei Tötungsdelikten ist es natürlich leichter, wenn jemand erstochen wurde oder die Leiche Schussverletzungen aufweist. Aber wenn der Leichnam schon stark verwest oder sogar mumifiziert ist und gar keine Organe mehr besitzt, wird es schwierig. Zumindest können wir aber noch eine äußeren Gewalteinwirkung ausschließen, wenn wir auch die Todesursache nicht mehr feststellen können.

Wie sieht es mit dem Todeszeitpunkt aus?
Auch da vermitteln Krimis einen völlig falschen Eindruck. Innerhalb der ersten 24 Stunden ist der Todeszeitpunkt ganz noch gut festlegbar – selbst dann nur plus minus vier Stunden, aber da die meisten Toten erst später aufgefunden werden, wird diese Aufgabe für den Rechtsmediziner obsolet. Da ist es leichter für die Polizei zu schauen, wann derjenige zuletzt seinen Kalender abgerissen oder mit dem Handy telefoniert hat oder online war.

Welchen Mythos haben Sie selbst schon in einem Ihrer Romane verwendet?
Bei mir werden Sie nicht DEN großen Mythos vorfinden, aber auch ich verwende manchmal den ein oder anderen fiktiven Kniff, damit es nicht langweilig wird. Bei mir stellt schon mal einer die Frage: Kann ich mir Mentholpaste unter die Nase schmieren? Das ist ja ein klassischer Mythos der Rechtsmedizin seit „Das Schweigen der Lämmer“.

Also keine Paste gegen den Leichengeruch?
Nein – das wird im Sektionssaal gar nicht gemacht und der Grund liegt für uns auf der Hand: Riechen ist ein ganz wichtiger Teil meines Berufs. Genau wie Sehen und Fühlen. Wenn ich meinen Geruchssinn ausschalten würde, könnte ich einen wichtigen Teil meines Jobs nicht machen. Ich muss zum Beispiel riechen, ob jemand Alkohol getrunken hat, ob jemand nach Lilien riecht, was auf Nierenversagen deutet oder fruchtig nach faulem Obst, wie beim Diabetes. Den Geruchssinn würde man mit Menthol lahmlegen.

Gibt es Scheintote wirklich und warum arbeiten Kommissare und Rechtsmediziner nicht so eng zusammenarbeiten wie im „Tatort?“ Alle Antworten finden sich in Michael Tsokos aktuellem Sachbuch:
„Schwimmen Tote immer oben?“, Droemer, 14,99 €

Hochspannung pur gibt es auch in Michael Tsokos neuem True-Crime-Thriller: „Abgefackelt – Ein Paul-Herzfeld-Thriller“, Knaur, 14,99 €

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